Die Niederlande entziehen sich weiterhin ihrer Verantwortung im Sivas-Prozess
Am 2. Juli 1993 setzte eine Horde von Tausenden Islamfundamentalist*innen nach stundenlanger Belagerung ein Hotel in der türkischen Stadt Sivas in Brand. Fünfunddreißig Menschen wurden getötet, die meisten von ihnen alevitische Intellektuelle, Künstler*innen und Darsteller*innen, die an einem mehrtägigen alevitischen Festival in der Stadt teilnahmen. Unter den Opfern war auch die niederländische Studentin Kulturanthropologie, Carina Thuijs.
Der niederländische Staat hat über das Massaker immer geschwiegen. Die Mutter von Thuijs, Wil Ditters, sagte 1997 gegenüber De Gelderlander: „Ich habe weder von der holländischen noch von der türkischen Regierung etwas gehört, nachdem klar wurde, dass Carina bei dem Feuer gestorben war. Ich musste um Informationen betteln. Ich erfuhr vom Tod meiner Tochter durch die türkische Frau, bei der sie untergebracht war. Das Außenministerium hat nichts organisiert. Ja, sie haben Carinas persönliche Sachen geschickt. Und die wurden mir sofort danach in Rechnung gestellt.“
Originele Nederlandstalige tekst (3. Januar 2021). Niederländischer Originaltext (3. Januar 2021)
Ein Jahr später durfte sie zu Besuch kommen, zusammen mit Carinas jüngerer Schwester. „Ich hatte Ende Oktober 1994 ein Gespräch im Ministerium. Ich hatte vorher einen Brief geschrieben, in dem ich aufgezählt habe, was ich wissen wollte. In diesem Gespräch wurde nichts beantwortet oder versprochen. Sie fragten nur, ob der Tee gut schmeckt. Ich fühlte mich, als ob ich zum Narren gehalten werde.“ Die Beamten zeigten kein Mitgefühl, schienen den Brief nicht einmal gelesen zu haben und schienen vor allem daran interessiert zu sein, sie so schnell wie möglich wieder los zu werden. Nach einer halben Stunde gaben Carinas Mutter und Schwester es auf. Soweit bekannt ist, hat der niederländische Staat in den folgenden Jahren nichts mehr unternommen.
Strafvervolgung
In der Zwischenzeit flohen neun in der Türkei verurteilte Täter*innen des Massakers nach Deutschland. Sie erhielten dort einen Aufenthaltsstatus und konnten sich jahrelang frei bewegen. Kürzlich erklärte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages jedoch, dass die Fundamentalist*innen dennoch an die Türkei ausgeliefert oder in Deutschland nach dem Weltrechtsprinzip verurteilt werden könnten. Zwei grüne Abgeordnete des Landes Berlin erstatteten sofort Anzeige gegen die achtköpfige Gruppe (einer ist inzwischen verstorben) wegen Mordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die deutsche Staatsanwaltschaft hat sich zu diesem Bericht noch nicht geäußert. In der Türkei läuft noch ein Strafverfahren gegen drei flüchtige Verdächtige. Dieser Fall droht im Jahr 2023 zu verjähren.
Die SP-Abgeordnete Sadet Karabulut hat dazu am 23. September 2020 schriftliche Fragen eingereicht. Die Antworten von Minister Stef Blok vom 7. Dezember bestätigen das Bild, dass die Niederlande von Anfang an den Kopf in den Sand gesteckt haben. Karabulut fragte den Minister: „Überwachen Sie oder die niederländische Botschaft die Prozesse? Wenn ja, auf welche Weise? Wenn nicht, warum nicht?“ Daraufhin antwortete dieser: „Die nächste Anhörung ist für den 20. Januar 2021 angesetzt. Die Botschaft verfolgt diesen Prozess aufmerksam und prüft pro Anhörung, ob und in welcher Weise er weiterverfolgt wird.“ Das ist natürlich keine vollständige Antwort auf die Frage. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass das Ministerium, angespornt durch die Fragen, erst jetzt damit begonnen hat, zu überwägen, den Prozess zu verfolgen.
Karabulut reichte am 24. Dezember eine Reihe von Folgefragen ein. Darin brachte sie den Minister in Zugzwang. „Sollte man aus Ihrer früheren Antwort über die Strafverfahren gegen Verdächtige im Fall des Sivas-Massakers schließen, dass keines der Strafverfahren gegen Verdächtige von den Niederlanden verfolgt wurde? Wenn ja, warum nicht? Wenn nicht, welches Strafverfahren haben Sie wann, gegen welche(n) Verdächtige(n), auf welche Weise verfolgt?“ Und natürlich fragte sie dann gleich weiter: „Sind Sie bereit, aktiv am laufenden Prozess gegen drei Angeklagte teilzunehmen, deren nächste Verhandlung am 20. Januar 2021 stattfinden wird? Wenn nicht, warum nicht?“
Positionieren
Wenn der niederländische Staat sich in das laufende türkische Strafverfahren gegen die drei Geflüchteten eingliedern würde, würde dies dem Fall eine internationale Dimension und mehr Aufmerksamkeit verleihen, was natürlich den Druck erhöhen würde. Abgesehen davon ist der Staat natürlich moralisch verpflichtet sich zu positionieren, da die Verdächtigen eine niederländische Staatsbürgerin im Rahmen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit ermordet haben. Thuijs’ Mutter forderte bereits 1994 in einem Interview den Staat auf, sich aktiv mit den damals in der Türkei stattfindenden Gerichtsverfahren auseinanderzusetzen. Und 2007 wurde dem niederländischen Botschafter in der Türkei von den Angehörigen der türkischen Opfer ein Dokument übergeben, das u.a. die Forderung enthielt, dass die Niederlande an diesen Prozessen teilnehmen sollten. Am 4. September letzten Jahres baten auch ein Verwandter eines der Opfer und die Demokratischen Alevitischen Vereinigungen (DAD) den niederländischen Staat zu prüfen, ob es Möglichkeiten gibt, sich der Klage anzuschließen. Zu diesem Zweck wollten sie einen Brief an die niederländische Botschaft überreichen. In ihrer ersten Fragereihe fragte Karabulut die Ministerin, ob es stimme, dass die Botschaft den Brief der Delegation nicht angenommen habe.
Der Minister antwortete dreist: „Die Botschaft hat in den letzten Jahren mehrfach Gespräche geführt mit der Organisation und den Personen, die genannt wurden. In diesen Gesprächen wurde keine Aufforderung an die Niederlande gerichtet um sich einem Gerichtsverfahren anzuschließen.“ Und über den Brief, den die Mitarbeiter*innen weigerten anzunehmen, schrieb er: „Am 4. September letzten Jahres meldete sich eine Reihe von Personen unangemeldet bei der Botschaft, die einen Kranz vor dem Botschaftsgebäude niederlegten und eine Reihe von Transparenten aufstellten. Als sie darum baten, in die Botschaft eingelassen zu werden, teilte ihnen das Sicherheitspersonal mit, dass ein Termin erforderlich sei, dass man aber bereit sei, die Petition, die sie bei sich trugen, entgegenzunehmen. Die Gruppe hat die Petition nicht eingereicht.“ Das ist nicht korrekt, antwortet Rechtsanwalt Özgür Coskun Piroglu, der den Brief dort abgeben wollte. Die Gruppe wollte gar nicht in die Botschaft reingehen. Er war als formaler Beteiligter an dem Fall anwesend. Er fragte das Sicherheitspersonal, ob sie seinen Brief annehmen wollten, aber sie lehnten ab. In ihren neuen Fragen spricht sich Karabulut deshalb gegen Bloks Geschichte aus. Sie schreibt, dass die Beteiligten „sich in diesem Bild nicht wiedererkennen. Sind Sie bereit, diesem Ersuchen stattzugeben, auch vor dem Hintergrund, dass die türkische Anwaltskammer und die Richter*innen in der Türkei diesen Fall als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ansehen, bei dem auch ein Niederländer ermordet wurde? Wenn nicht, warum nicht?“
Absichtlich vage
„Im Jahr 2019 wurde die Bundesregierung gefragt, wie viele in der Türkei im Fall Sivas verurteilte Personen zu diesem Zeitpunkt in Deutschland lebten. Die Bundesregierung hat im April 2019 geantwortet, dass sie darüber keine Informationen hat“, schreibt Minister Blok in einer seiner Antworten und bezieht sich dabei auf Antworten auf Fragen, die im Deutschen Bundestag gestellt wurden. Das stimmt nicht, zeigt Karabulut mit ihren neuen Fragen: „Die Bundesregierung konnte jetzt feststellen, dass sich neun Personen, die in der Türkei im Zusammenhang mit den Sivas-Morden verurteilt wurden, in Deutschland aufhalten.“ Was zeigt sich? Blok hat die deutschen Antworten verdreht. Die Bundesregierung gab an, nicht zu wissen, warum die Zahl der Verdächtigen in Deutschland im Laufe der Jahre von vierundzwanzig auf neun gesunken sei. Aber wer die restlichen neun seien, das wissen sie schon. Aber indem er so tut, als ob das nicht der Fall sei, kann der Minister suggerieren, dass es unsinnig wäre, die niederländische Beteiligung an einem möglichen Prozess zu untersuchen, da Deutschland nicht einmal weiß, welche Verdächtigen beteiligt sind.
Bei möglichen Auslieferungsanträgen spielt der Minister ein ähnliches Spiel. Deutschland habe „bis auf ein Auslieferungsersuch“, so Blok, „keine Informationen über neue Auslieferungsersuche der Türkei seit 2013. Antworten auf Fragen aus dem Bundestag im vergangenen Juli deuten darauf hin, dass noch keine Entscheidung über das fragliche Auslieferungsersuchen getroffen wurde. Auch mit Blick auf die Antworten der Bundesregierung auf Bundestagsanfragen zu diesem Thema sieht das Kabinett derzeit keine Veranlassung, diesbezüglich Schritte gegenüber Deutschland zu unternehmen.“ Es gibt jedoch keinen logischen Grund, mit der Kontaktaufnahme zu warten, da ein Auslieferungsersuchen noch im Gange ist. Und so entzieht sich der niederländische Staat nach 27 Jahren weiterhin seiner Verantwortung.
Auch im türkischen Parlament wurden inzwischen schriftliche Anfragen eingereicht.
Eric Krebbers
(Übersetzt von Nickname.)