Interview in Jungle World 49, 24 november 2004
Von: Deniz Yücel
»Beim Fundamentalismus geht es nicht um Kultur«
Interview mit Eric Krebbers
Multikulti ist out. Anpassen oder abhauen, lautet das deutsche Credo. Aber auch im einst als liberal geltenden Holland ist die Stimmung seit dem Mord an Theo van Gogh gekippt. Nicht nur dort ist die Linke dazu aufgefordert, auf den islamischen Fundamentalismus wie auf den gesellschaftlichen Rassismus zu reagieren. Die linke antirassistische Gruppe De Fabel van de Illegal aus dem niederländischen Leiden existiert seit 1990. Sie publiziert eine gleichnamige Zeitschrift und leistet praktische Unterstützung für Illegalisierte. Eric Krebbers ist Mitglied der Gruppe. Mit ihm sprach Deniz Yücel.
»Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert«, heißt es seit dem Mord an Theo van Gogh. Ist sie das?
Daran, dass Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen leben, hat sich nichts geändert. Was sich ändert, ist der ideologische Umgang damit. Die lange Zeit gehegte Ideologie, dass die Einwanderer ihre kulturellen Traditionen erhalten und die verschiedenen kulturellen Gruppen einen Dialog führen sollen, ist in den Niederlanden nicht mehr populär. Stattdessen wird verlangt, dass sich die Immigranten integrieren oder assimilieren.
In einem Aufsatz von Anfang 2004 plädieren Sie dafür, »den Rassismus zu bekämpfen, ohne den Multikulturalismus zu verteidigen«. Aber das macht kaum noch jemand. Auch in Deutschland scheint sich jetzt der Begriff »Leitkultur«, der vor ein paar Jahren zurückgewiesen wurde, zu etablieren. Muss man angesichts dieses Diskurses nicht von links das Recht auf Differenz verteidigen?
Nun, jeder Mensch ist frei, so zu leben, wie er möchte. Dennoch sind wir überzeugt, dass das multikulturalistische Konzept für die Linke nichts taugt. Ähnlich wie der Nationalismus behandelt der Multikulturalismus Individuen immer nur als Vertreter einer einheitlichen Kultur. Er interessiert sich nicht für politische und soziale Kämpfe um Gleichheit, nicht für antikapitalistische, antirassistische und antipatriarchale Kämpfe. Dem Multikulturalismus geht es allein darum, vermeintlich authentische Kulturen zu wahren. Dabei beinhaltet jede Kultur konservative und progressive Tendenzen, und die Leute sind ebenfalls konservativ oder progressiv. Das zählt. Auf Kultur geben wir nicht viel. Im Gegensatz dazu hat der niederländische Staat bis zum 11. September die konservativen Einwandererorganisationen unterstützt, weil diese als authentischer galten als die progressiven.
Ist das noch so?
Allmählich ändert sich diese Politik. Migrantischen Organisationen werden mehr und mehr die Zuschüsse gestrichen. Alle Fraktionen des Parlaments stimmen darin überein, dass man viel Energie in die Integration der Einwanderer investieren müsse. Selbst wenn es eher die Konservativen sind, die Konzepte wie Leitkultur propagieren, sind sich doch mehr oder weniger alle darin einig, dass die Migranten die niederländische Sprache und Lebensweise lernen sollen.
Lässt sich so der fundamentalistische Islam in den Griff kriegen?
Der Fundamentalismus ist keine Frage von Integration, sondern eine von links und rechts. Auch van Goghs Mörder war Mitglied einer militanten, extrem rechten Organisation. Es geht nicht um Kultur, sondern um eine rechtsextreme Ideologie, die bekämpft werden muss.
Wie verhält sich die niederländische radikale Linke in dem Spannungsfeld zwischen Islamismus und Rassismus?
Die radikale Linke ist marginal und oft antiimperialistisch und antizionistisch geprägt. Daher verschließen die meisten ihre Augen vor unfreiheitlichen Momenten nationaler Befreiungskämpfe oder dem islamischen Fundamentalismus. Wenn man mit den Leuten redet, sagen sie: »Ja, der Islamismus ist ein Problem, aber nicht das größte.« Sie sprechen sich nicht öffentlich gegen den Islamismus aus, weil sie jede Kritik an Einwanderern für eine Kollaboration mit dem rassistischen Mainstream halten. Wir gehören zu den wenigen innerhalb der Linken, die beides kritisieren: den gesellschaftlichen Rassismus ebenso wie den Islamismus.
In den letzten Jahren haben wir harte Auseinandersetzungen mit der radikalen Linken geführt, nicht zuletzt über das Problem des Antisemitismus. Sie müssen wissen, dass in Holland die Kritik des Antisemitismus Mainstream ist. Wenn wir uns mit Antisemitismus beschäftigen, werfen uns Linke vor, wir seien mit den Rechten verbündet. Aber wegen der Debatten, die wir in den letzten Jahren geführt haben, beginnen manche Linke, über unsere Argumente nachzudenken. Ich bin nicht mehr so pessimistisch wie vor zwei, drei Jahren, als bei einer großen Demonstration, an der Muslime und Linksradikale teilnahmen, skandiert wurde: »Hamas, Hamas, Juden ins Gas!«
Wie reagieren säkulare Einwanderer auf die aktuelle Stimmung?
Seit einiger Zeit kann man beobachten, wie sich Leute, von denen man das nie erwartet hätte, der Religion zuwenden, dass Frauen plötzlich ein Kopftuch anlegen. Sicher auch deswegen, weil sie sich nicht akzeptiert fühlen. Und linke wie rechte Einwanderer fühlen sich durch den Rassismus, der in Holland in den letzten zehn Jahren und vor allem seit dem Mord an van Gogh enorm zugenommen hat, diskriminiert und ausgegrenzt. Gleichzeitig wollen viele nichts mit dem Islamismus zu tun haben, den sie aus ihren Herkunftsländern kennen und den sie vielleicht schon dort bekämpft haben. Manche betonen verstärkt, dass sie ein Teil der liberalen niederländischen Gesellschaft sind. Ein prominentes Beispiel ist die Abgeordnete Ayaan Hirsi Ali. Es gibt Anzeichen für eine starke Polarisierung der Einwanderer.
Ayaan Hirsi Ali hält sich seit dem Mord an van Gogh versteckt. Erhält sie die Solidarität der radikalen Linken? Und warum landet eine Kritikerin wie sie bei der Rechten?
Bemerkenswert, nicht wahr? Die parlamentarische Linke unterstützt sie, ebenso wie die anderen Fraktionen. Aus der radikalen Linken sind mir aber keine Solidaritätserklärungen bekannt. Viele Linke tun sich schwer mit ihr, weil sie sich eindeutig auf Seiten der Rechtsliberalen positioniert. Ihrer Kritik am Islam kann ich zustimmen. Das Problem ist: Wenn sie über Gewalt gegen Frauen spricht, sind immer nur muslimische Frauen gemeint. Bestimmte Fragen kommen bei ihr überhaupt nicht vor, etwa die prekären Verhältnisse, unter denen viele muslimische Frauen arbeiten. Ihre auf den Islam reduzierte die Kritik des Patriarchats macht sie für konservative und christliche Kreise interessant, die ansonsten mit einer Gleichberechtigung der Geschlechter nicht viel am Hut haben und etwa das Recht auf Abtreibung einschränken wollen. Diese Leute interessieren sich nicht für die Lage migrantischer Frauen, das ist für sie nur eine Waffe im Kulturkampf. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert, als die Eliten gerne über die unterdrückten Frauen aus der Arbeiterklasse sprachen.
Was wissen Sie über die Leute, die Anschläge auf Moscheen verübt haben?
Festgenommen wurden einige Täter mit rechtsextremer Gesinnung. Die rechtsextremen Parteien distanzieren sich von den Anschlägen. Dennoch vermuten wir, dass die Täter in ihrem Umfeld zu suchen sind. Bedeutend sind diese Parteien aber nicht. Wähler mit rechten Ansichten fanden stets eine Adresse am rechten Rand des Mainstreams – zuletzt war es Pim Fortuyn, jetzt hat Geert Wilders, ein Abtrünniger aus der liberalen Volkspartei, der ebenfalls Morddrohungen ausgesetzt ist, gute Aussichten, diese Stimmen zu bekommen. Ich glaube nicht, dass die Rechtsextremisten von der aktuellen Stimmung profitieren werden. Sie dürfte innerhalb des Mainstreams aufgefangen werden, der weiter nach rechts rücken dürfte.