Sind der Völkermord im Gazastreifen und die Shoa vergleichbar?
In Gesprächen und in den sozialen Medien wurden in den letzten Monaten ab und zu Vergleiche angestellt, die Unbehagen hervorrufen können. Manchmal werden Zionisten oder Israelis als Nazis bezeichnet. Oder die aktuelle Situation in Gaza wird mit der im Warschauer Ghetto während des Zweiten Weltkriegs verglichen, wobei gesagt wird, dass Juden mit ihrer Geschichte es besser wissen müssten. Wir haben auch erlebt, dass die Nakba und die Shoah als ebenbürtig gesehen werden. Wie sprechen wir bei Doorbraak darüber?
Bis zum 24. März 2024, dem 170. Tag des gegenwärtigen Völkermords im Gazastreifen, hat die israelische Armee nach Angaben von Al-Jazeera bereits mehr als 32.226 Palästinenser:innen getötet. Darunter sind mehr als 13.000 Kinder (außerdem werden 8.000 Menschen vermisst, von denen die meisten wahrscheinlich unter den Trümmern liegen). Nicht mitgezählt sind unter anderem die Menschen, die verhungern oder nicht mehr die medizinische Versorgung erhalten, die sie vor dem 7. Oktober hatten. Ganze Städte werden buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Praktisch alle Krankenhäuser, Universitäten, Schulen und religiösen Gebäude wurden in die Luft gesprengt, so dass an eine Rückkehr kaum zu denken ist und eine ganze Kultur praktisch von der Erde gefegt wird. Die Gewalt und Brutalität der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), die von vielen Aktivist:innen als israelische Besatzungsmacht bezeichnet werden, ist für viele westliche Menschen unvorstellbar, da die meisten von ihnen keine eigenen direkten Erfahrungen mit Krieg, geschweige denn mit Völkermord, mehr haben. Daher neigen viele Menschen hier dazu, sich darüber keine Gedanken zu machen, zu denken, dass es irgendwie schon in Ordnung sein wird oder dass so etwas nun einmal in Südwestasien passiert.
Der Originaltext (Niederländisch) / De originele tekst (Nederlands)
In diesem Zusammenhang sehen sich antikoloniale Aktivist:innen und Menschen mit einem Hintergrund in der islamischen Welt manchmal gezwungen, auf den Zweiten Weltkrieg und die Shoah zu verweisen, um deutlich zu machen, wie schrecklich die Dinge in Palästina sind. Sie versuchen, das einzige Wissen über Krieg und Vernichtung anzuzapfen, das bei uns noch weit verbreitet ist, weil wir es durch Schule, Bücher und Filme vermittelt bekommen. Für viele Menschen im Westen sind die Gräueltaten der Nazis im Zweiten Weltkrieg immer noch ein Maßstab für ihr moralisches Denken. In einem fast schon verzweifelten Versuch, in die westliche Psyche einzudringen, versuchen einige pro-palästinensische Aktivist:innen, Bilder davon heraufzubeschwören, um den Menschen die Ähnlichkeit mit all den Bildern und Videos vor Augen zu führen, die uns täglich aus Gaza und dem Westjordanland erreichen. Sie wollen die Menschen auf diese Weise wachschütteln, damit die Unterstützung für die Politik der niederländischen Regierung, die den Völkermord unter anderem mit Waffenlieferungen weiter unterstützen will, zu schwinden beginnt.
Besser wissen?
Den Zweiten Weltkrieg auf diese Weise zu thematisieren, würden die meisten von uns nicht schnell tun, aber wir haben Verständnis dafür, wenn andere sich auf diese Weise an Gesprächen beteiligen. Wir lehnen es nicht grundsätzlich ab. Es kann höchstens unangenehm sein, aber vielleicht ist das auch, was damit erreicht werden soll. Was uns eher missfällt sind Leute, die über den palästinensischen Völkermord sagen, dass die Israelis es besser wissen müssten, weil die Jüd:innen damals selbst Opfer eines Völkermords waren. Oder die sagen, dass die Opfer der Shoah jetzt selbst Nazis sind. Dies ist aus mehreren Gründen sehr problematisch.
In erster Linie, weil Israel nicht alle Jüd:innen vertritt, auch wenn der israelische Staat seit seiner Gründung versucht, uns das glauben zu machen. Es gibt auch sehr viele antizionistische Jüd:innen in Israel und darüber hinaus, denen der Völkermord, die Apartheid oder sogar die Existenz des Kolonialstaates nicht gefällt. Indem wir suggerieren, dass alle Jüd:innen eins sind und dass sie, nachdem sie die Shoah überlebt haben, nun selbst einen Völkermord begehen, machen wir sie alle zur Zielscheibe des Antisemitismus. Das gilt auch für die Jüd:innen, die nichts mit Israel und seiner Politik der Ausgrenzung und Gewalt zu tun haben wollen. Die westliche Welt kennt mindestens ein Jahrtausend antijüdischer und antisemitischer Gewalt, und es ist wichtig, dass dies ein Ende hat. Wir sollten kein Öl in dieses Feuer gießen. Auch weil Israel dieses Feuer immer wieder nutzen wird, um seine Apartheid zu rechtfertigen.
Darüber hinaus ist es ohnehin absurd, von Opfern automatisch einen höheren moralischen Standard zu erwarten. Als ob Mitgefühl und Solidarität nur vorbildlichen Menschen zustünden. Es ist auch nicht das erste Mal, dass Gruppen von Menschen, die selbst Opfer von westlicher kolonialer Gewalt waren, anschließend anderswo in gleicher Weise gehandelt haben. Eins denke nur an die schwarzen Amerikaner:innen, die Anfang des 19. Jahrhunderts, gegen Ende der Sklaverei, nach Afrika gingen, um dort die Bevölkerungskolonie Liberia zu gründen, in der die einheimische Bevölkerung schwer unterdrückt wurde.
Die Israelis sind Menschen wie wir alle, die für ihr Handlung Verantwortung ablegen können und sollten. Genauso wie die israelische Regierung für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden muss, oder eigentlich: gezwungen werden muss, Apartheid, Besatzung und Völkermord zu beenden. Und der israelische Staat muss einem freien Palästina weichen, in dem alle Bewohner des gesamten Gebietes die gleichen Rechte haben. Noch lieber wäre uns eine Welt ohne Staaten, die fast überall indigene Völker zu Opfern ihrer kolonialen und kapitalistischen Ausbeutungsagenda machen. Wir erkennen jedoch einen freien palästinensischen Staat als eine pragmatische Lösung an. Natürlich erfordert dies einen komplexen Herangehensweise, aber das ist eine Entscheidung für die indigene Bevölkerung und der nicht-westlichen Perspektiven.
Gleichstellen
Und dann über die Gleichsetzung der Ideen der heutigen israelischen Täter mit denen der Nazis von damals. In der Tat hat der jüdische Nationalismus, der Zionismus, zum Teil die gleichen – europäischen – Wurzeln wie der deutsche Nationalismus; das gilt für fast alle Nationalismen. Der Zionismus als Ideologie hat Platz für verschiedene politische Strömungen, die aber alle ein koloniales Fundament haben. Der Nationalsozialismus hat dafür keinen Platz, und Faschismus und Rassismus sind für diese Ideologie unerlässlich. Beide Ideologien, der Nationalsozialismus und der Zionismus, haben einen imperialistischen Charakter, der oft mit Nationalismus und Völkermord einhergeht.
Die heutigen zionistischen und die damaligen nationalsozialistischen Praktiken ähneln sich also in mancher Hinsicht, insbesondere für diejenigen, die mit den Geschichten und Bildern aus Gaza vertraut sind. Und natürlich kann ein Vergleich der Ideen und Praktiken verschiedener Völkermorde politisch und historisch nützlich sein und neue Erkenntnisse bringen. Aber eine völlige Gleichsetzung bringt uns auf den falschen politischen Pfad. Die Shoah und die Nakba sind nicht dasselbe. Es ist wichtig, diese schrecklichen Ereignisse – von denen das zweite jetzt noch im Gange ist – immer konkret und spezifisch zu betrachten und sie in ihren jeweiligen historischen und geografischen Kontexten zu sehen.
Die Shoah war der Höhepunkt von zwei Jahrtausenden christlichem und später rassistischem und nationalistischem Judenhass und Antisemitismus in Europa, wobei die Jüd:innen in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozessen oft als die lokalen “Anderen” dienten. Die Shoah hatte weitgehend die Form eines industriellen Vernichtungsprojekts, da sie im Herzen der damaligen industrialisierten Welt stattfand.
Die Nakba hingegen hat eher den Charakter eines kolonialen Ausrottungsprojekts. Sie begann, als Gruppen von vor allem osteuropäischen Jüd:innen, angespornt durch jahrhundertelange antisemitische Ausgrenzung und aufkommenden Nationalismus, in ihr so genanntes “gelobtes Land” in Südwestasien aufbrachen, um die damaligen britischen kolonialen Besatzer abzulösen, mit dem Ziel, ein eigenes koloniales Bevölkerungsprojekt zu starten, das – wie immer bei dieser Form des Kolonialismus – mit ethnischen Säuberungen und Völkermord an der einheimischen Bevölkerung, in diesem Fall den Palästinenser:innen, einherging.
Manche gehen in ihrer hilflosen Wut sogar noch weiter und bezeichnen Israel als “das größte Übel” im Verhältnis zu dem, was Nachbarstaaten tun (man denke an die Gewalt des syrischen Regimes) oder im Verhältnis zu früheren Völkermorden. Aber auch das ist nicht besonders sinnvoll, denn warum sollten wir so tun, als gäbe es einen Wettbewerb in menschlichen Leid? Warum sollten wir Gruppen von Überlebenden auf diese Weise gegeneinander ausspielen? Und waren diese anderen Völkermorde dann weniger “schlimm”? Wird dadurch nicht das Leid aller anderen Opfer geschmälert? Es gibt keine besondere Rolle der Jüd:innen bei Völkermorden, weder als Opfer- noch als Tätergruppe. Was die große Mehrheit der Völkermorde verbindet, ist der Kolonialismus.
Koloniale Geschichte
Die Shoah ist in der Tat Teil einer jahrhundertelangen Reihe von kolonialen Völkermorden, mit dem Unterschied, dass sie in Europa stattfand. Die Shoah stand in engem Zusammenhang mit den kolonialen Expansionsplänen Deutschlands im Osten, insbesondere in der fruchtbaren Ukraine, wo Deutschland Plantagen errichten wollte, wie es andere westliche Mächte in ihren Kolonien in den beiden Amerikas, Afrika und Asien taten. Von Nordamerika bis zu den Banda-Inseln und Tasmanien und von Namibia bis Grönland wurden Versuche zur Ausrottung von ganzen Bevölkerungsgruppen unternommen. Das Osmanische Reich beging Völkermord an den Armeniern und Russland an den Krimtartaren. Und die kolonialen Mörder lernten voneinander. So übte Deutschland schon Jahrzehnte vor der Shoah koloniale Gewalt in Namibia aus, es war am Völkermord an den Armeniern beteiligt, und Hitler bewunderte, wie die Vereinigten Staaten gewaltsam die indigene Bevölkerung vertrieb und ermordete. Bei den meisten ethnischen Säuberungen und Völkermorden nach der formalen Kolonialzeit – man denke an Indonesien, Bosnien und Ruanda – hatten die westlichen Mächte ihre Finger im Spiel. Deshalb ist es gut zu sehen, dass viele Bevölkerungsgruppen, die in den letzten Jahrzehnten Opfer von Völkermorden oder ethnischen Säuberungen wurden, jetzt auf die Straße gehen, um gegen den Völkermord in Palästina zu demonstrieren. Basale Solidarität!
Kurz gesagt, der gegenwärtige Völkermord ist eine Fortsetzung der gewaltsamen kolonialen Tradition, und zwar von Menschen, die überwiegend europäische Wurzeln haben. Dies ist nicht auf eine einzelne Bevölkerungsgruppe zurückzuführen, sondern ein Durchwirken kolonialer Machtverhältnisse und kann nicht vom Kampf gegen koloniale Systeme weltweit getrennt werden.
Akef Ibrahimi
Eric Krebbers